Während die Reste in meinem Eimer fermentieren, pflanze ich auf meinem aus Europaletten gebauten Acker Gras an. Das ist leicht: Blumensamen und Vogelfutter kaufen, dick ausstreuen, warten. Zwar wird ein Teil der Körner gefressen, aber selbst die hungrigsten Vögel schaffen nicht alles. So entsteht eine Blumenwiese durchsetzt mit Gräsern, die ich nicht übermäßig wässere. Die Wurzeln werden dadurch länger, sind toleranter gegen Trockenheit und können Mineralstoffe besser aufnehmen.
ERDE SELBER HERSTELLEN – DAS KLINGT VERRÜCKT, ABER MAN KANN VON HUMUS NICHT GENUNG HABEN. ANGENEHMER NEBENEFFEKT: MAN SELBST FÜHLT SICH AUCH BESSER.
Japanische Mikroorganismen
Vielleicht liegt es daran, dass mein Kaffee in den Anden biologisch angebaut und fair trade gehandelt wird. Ich möchte das gerne glauben, denn irgendeinen Grund muss es haben, dass die Kaffeefilter am besten auf die japanischen Mikroorganismen reagieren, die ich zusetze. Ja, es ist so: Ich stelle eigene Erde her. Dabei ist mein Acker viel kleiner – und trotzdem schluffig und gleichzeitig locker, mit hoher Wasserleitfähigkeit, leicht erwärmbar und, aufgrund meines hohen Eierkonsums, mit hohem Kalkgehalt. Er ist etwa drei Quadratmeter klein, die Erde liegt auf Europaletten mit selbst gebauter Umrandung – und zwar auf meinem Balkon.
Wie Sauerkraut
Ich benutze dazu meinen Biomüll. Der fällt ohnehin an, weil ich gerne Obst und Gemüse und Salat esse. Die klein geschnittenen und zerstampften Reste sprühe ich mit Mikroorganismen ein, damit sie fermentieren. Das Prinzip ist dasselbe, das aus Kohl Sauerkraut macht.
Bokashi-Eimer
Die Fermentierung dauert vier bis sechs Wochen und findet in einem luftdichten Plastikeimer statt, den ich mit den Mikroorganismen in Japan bestellt habe – dem sogenannten Bokashi-Eimer. Japaner, wurde mir erklärt, fermentieren gern, weil 1982 ein Professor einer Inselgruppe zwischen Japan und Taiwan bei dem Versuch, die Bodenfruchtbarkeit der Inseln zu verbessern, zufällig entdeckte, dass Gras besser wuchs, wenn er eine bestimmte Mischung aus Milchsäure, Hefen und Fotosynthesebakterien auf einen Haufen kippte.
Gewöhnungsbedürftiger Geruch
Der Eimer hat einen Siebeinsatz, durch den die Flüssigkeit abfließen kann, die bei der Fermentierung entsteht. Das Sickerwasser stinkt säuerlich, das riecht gewöhnungsbedürftig, sonst ist der Vorgang geruchsneutral. Weil die Flüssigkeit aber ein biologischer Abflussreiniger ist, der auch einen verstopften Abfluss freibekommt, kann ich den Geruch gut aushalten.
Vögel füttern
Preußische Regenwürmer
Sind die Essensreste einmal durchfermentiert, entsteht eine graue Masse. Nach wenigen Wochen grabe ich den Rasen um und mische diese Masse ein. Der Rest passiert von selbst: Kontinentales Klima herrscht auf meinem Balkon meistens vor, semihumid ist es in Hamburg sowieso. Ich habe mir außerdem Regenwürmer gekauft, bei einem Betrieb in Brandenburg: Der preußische Regenwurm beschleunigt den Prozess der Humusbildung enorm. Es klappt zwar auch ohne Würmer. Ich aber mag es, wenn es im Acker wimmelt.
Produktives Faulenzen
Die Herstellung von Humus ist eine Sache von Monaten, nicht von Wochen. Gute Schwarzerde herzustellen dauert auf meinem Balkon einen Sommer. Nachteil der Würmer: Unter Umständen muss man sie im Winter mit einer Plane abdecken, damit sie nicht erfrieren. Und noch ein Nachteil: Als Gesprächsthema auf einer Party eignet sich die Wurmhaltung nur bedingt. Ich habe noch nie jemanden getroffen, der mich attraktiv oder interessant fand, weil ich Humus auf dem Balkon herstelle. Das Gegenteil ist der Fall. Die meisten Menschen gehen davon aus, dass ich nicht gesund bin im Kopf. Dabei mache ich mir die Arbeit nur, weil ich a) mit dem Anspruch erzogen worden bin, nichts wegzuwerfen, was noch benutzbar ist, und b) eigentlich faul bin. Ich hatte keine Lust, meine Abfälle in den Hausmüll zu werfen, Bioabfälle wollte ich auch nicht sammeln, weil das stinkt.
Helden der Erde
Humus auf dem Balkon gibt mir ein gutes Gefühl. In Zeiten industrieller Landwirtschaft und großer Monokulturen geht allerdings mehr fruchtbarer Boden verloren als jemals zuvor in der Geschichte.
Seit 1945 summiert sich die durch Erosion verloren gegangene Fläche auf eine Größe, die etwa derjenigen von China und Indien entspricht. Durch natürliche Witterung entsteht dagegen nur etwa ein Zentimeter Boden neu. In hundert Jahren.
"Crafted Humus"
Mit Recht könnte ich nun also behaupten, dass ich als Bodenhersteller am Fortbestand der Menschheit arbeite. Oder ich mache eine Start-up-Geschichte daraus: Crafted Humus. Biologisch in St. Pauli hergestellt, garantiert ohne Torf und Trockenlegung von Feuchtgebieten. Beste Qualität, mit Liebe produziert, zu kaufen in einem Glas mit buntem Schleifchen, ideal für den Hipster im gentrifizierten Stadtviertel. Ich suche gleich Wochenmärkte heraus.
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