Pilze sind wahre Meister der Zersetzung. Sie spalten mit Hilfe von Enzymen nachwachsende pflanzliche Rohstoffe in ihre einzelnen Bestandteile auf. Das bedeutet, dass sich viele Pilze von toter, organischer Biomasse wie z. B. abgestorbenen Bäumen ernähren können. Außerdem beschleunigen Pilze eine Art Upcycling-Prozess: Durch Synthese kombinieren Pilze einzelne Bestandteile der Biomasse und produzieren so neue, andere Biomaterialien. Dabei ist das Ganze auch noch sehr umweltfreundlich: Für die Herstellung von einem Kilogramm Baumwolle benötigt man 10.000 Liter Wasser, für die Herstellung der gleichen Menge Textilien aus Pilzen dagegen nur 100 Liter. Verbundwerkstoffe für den Hausbau, die biotechnologisch aus Pilzen gewonnen werden, produzieren deutlich weniger CO2 als herkömmliche Baumaterialien wie Beton. Und das Beste daran? Wenn sie nicht mehr gebraucht werden, können die Wände oder Fliesen aus Pilzwerkstoffen einfach auf den Kompost geworfen werden. Vera Meyer ist sich sicher, dass wir bald alle in Häusern aus Pilzsubstanzen leben werden: "Zwar noch nicht heute oder morgen, aber vielleicht in zehn Jahren", sagt sie. Im Moment gibt es aber noch keine geeigneten Produktionsanlagen, um die benötigten Mengen zu verarbeiten.
Pilze? Mögen wir in fast jeder Form: Aus der Pfanne, auf dem Rehrücken und mit Nudeln. Pilze haben aber noch viel mehr in sich. Sie stehen mit dem lebensrettenden Penicillin in Verbindung, und man braucht Hefepilze für Bier und Brot. Pilze werden für Fliesen an der Küchenwand und als Ziegel für den Hausbau verwendet. Außerdem sind sie in Waschmitteln, Papier, Treibstoff und Medikamenten vorhanden. Bereits jetzt ist es so, dass ohne Pilzbiotechnologie viele Alltagsgegenstände nicht existieren würden. Die Wissenschaftler Vera Meyer und Philipp Benz sind sogar davon überzeugt, dass Pilze unser Leben schon bald revolutionieren könnten.
Vera Meyer ist Professorin, Künstlerin und Leiterin des Fachgebiets Angewandte und Molekulare Mikrobiologie an der TU Berlin. Sie geht davon aus, dass "Pilze der Weg sind, unsere erdölbasierte Wirtschaft in eine biobasierte umzuwandeln." Dabei sind Pilze sind weder Tiere noch Pflanzen. Sie bilden in der Natur ein eigenes Reich - das Reich der Pilze.
WEDER TIER NOCH PFLANZE
Schätzungen nach gibt es weltweit etwa sechs Millionen unterschiedliche Pilzarten. Die größten lebenden Organismen der Welt sind daher nicht etwa Wale in den Ozeanen oder Elefanten an Land, sondern ein Pilz in Oregon, USA. Der Riese, der als "Dunkler Honigpilz" (Armillaria ostoyae) bekannt ist, bedeckt eine Fläche von 9,65 Quadratkilometern, was etwa 1 352 Fußballfeldern entspricht. Er ist zwischen 1.900 und 8.650 Jahre alt.
Bislang sind erst etwa 150.000 Pilzarten wissenschaftlich erforscht. Aber auch schon dieser relativ kleine Anteil trägt erheblich dazu bei, dass unsere Welt gesünder, nachhaltiger und lebenswerter ist. Pilze sparen Ressourcen und können recycelt werden. Pilzsubstanzen können Baumaterialien wie Beton und Gipsplatten, Leder in Kleidung und Verpackungen aus Kunststoff ersetzen. Der italienische Designer Maurizio Montalti und sein Unternehmen Mogu haben sogar Fußböden und Wandfliesen aus Pilzen entwickelt. Die Bestätigung für die Pilz-Nachhaltigkeit liegt in ihrer Energiebilanz: Für die Herstellung von Ziegeln aus biologischen Substanzen sind Temperaturen zwischen 70 und 120 Grad Celsius erforderlich. Für Steinziegel benötigt man bis zu 1400 Grad Celsius.
RECYCLINGANLAGE DER NATUR
HILFE GEGEN HUNGER
Eiweißreiche Fleischersatzprodukte aus Pilzen liegen längst im Trend, und das nicht nur bei Vegetariern. Manche Pilze sind in Geschmack und Konsistenz Fleisch sogar äußerst ähnlich. Die Herstellung von Fleischersatzprodukten aus Pilzmyzel hat jetzt sogar noch mehr Fahrt aufgenommen. Aus gutem Grund: Pilzfleisch aus dem Bioreaktor ist wesentlich effizienter und nachhaltiger als das tierische Original. Um die gleiche Menge an Eiweiß aus Rindfleisch zu gewinnen, wie wir sie aus Pilzen erhalten, ist die zehnfache Menge Wasser erforderlich, und für die gleiche Menge an Eiweiß aus Hühnerfleisch wird immerhin noch die doppelte Menge Wasser benötigt. Pilzfleisch ist außerdem sehr gesund und enthält viele Proteine, Aminosäuren und Ballaststoffe.
PILZE ALS KUNSTOBJEKT
Pilze sind für die pilzbegeisterte Vera Meyer aber nicht nur das Baumaterial der Zukunft oder der Fleischersatz der Gegenwart, sondern auch ein zeitloses Kunstobjekt. "Ich baue Skulpturen aus Zufallsfunden wie Klammerpilzen und verrottetem Holz, aber auch aus weggeworfenen und scheinbar nicht mehr brauchbaren Gegenständen wie Schrott und Einwegmaterial. Ich möchte dem Vergänglichen und Weggeworfenen ein neues, ungeplantes (Mit-)Leben geben", sagt sie. Sie arbeitet in ihren Kunstprojekten viel mit Gold, "um diesen entstandenen, scheinbar nutzlosen Dingen eine neue Art von Aufmerksamkeit zu schenken, hülle ich sie in das goldene Gewand des Todes."
Dabei ist ihr völlig bewusst, dass auch die wissenschaftliche Arbeit ihre Kunst beeinflusst. Ihr Fachwissen verändert die Perspektive auf den Pilz und hilft, neue Strukturen, Merkmale und Möglichkeiten zu erkennen. "Der künstlerische Blick auf ein Objekt oder einen Organismus kann Wissenschaftler auf ganz unerwartete Ideen bringen," sagt sie. Immerhin war auch schon Leonardo da Vinci nicht nur Künstler, sondern auch Erfinder, Ingenieur und passionierter Erforscher der Anatomie.
VERA MEYER
Biotechnologin, Professorin an der TU Berlin, und Künstlerin. Sie schafft ungewöhnliche und schöne Kunstobjekte aus Biomaterialien.
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