Besonders in harten Zeiten wie im Corona-Lockdown besinnen wir uns auf das Wesentliche und fragen uns, was im Leben wirklich wichtig ist. Wir sind auf der Suche nach Authentizität, nach echten (Koch-)Erlebnissen in einer Welt, die immer mehr an ihre Grenzen zu geraten droht. Der Wunsch nimmt Gestalt an, der globalisierten Beliebigkeit eine unverwechselbare Handschrift entgegenzusetzen. Mit nachhaltigem und regionalem Anbau, mit authentischem Kochgenuss und einem auf die eigenen Bedürfnisse zugeschnittenen Küchendesign möchte die New Generation die Gestaltungsautonomie in der Küche zurückerobern. Ihr Mantra: Gute Nahrung hat nichts mehr mit Luxus zu tun. Statussymbole lenken nur ab von ehrlichem Essen und gutem Geschmack. Lupenreine Herkunft ist gefragt, handwerkliche Intelligenz und Kreativität. Denn Kochen in seiner ursprünglichen Form ist das Gegenteil von Konsumieren, es ist pures Kreieren. Und es setzt Emotionen frei und kann Menschen miteinander verbinden. Dabei besinnt man sich gern auf alte Küchentechniken wie Fermentieren, Räuchern und Einlegen, die vor allem mit etwas gelingen, wovon wir sehr lange viel zu wenig hatten: mit ganz viel Zeit. Vor diesem Hintergrund haben wir Menschen zusammengebracht, die sich darüber Gedanken machen, welche Rolle sie spielen wollen, um die Welt ein ganz kleines bisschen besser, bunter, schöner, nachhaltiger und menschlicher zu gestalten.
WAS IST SINNVOLL UND NACHHALTIG? WIE MÖCHTE ICH LEBEN? EIN ROUNDTABLE-GESPRÄCH ÜBER DIE KÜCHE DER ZUKUNFT.
Vier Teilnehmer sprechen über die Bedeutung des Kochens in diesen Tagen...
Holger Schardt: Der Designer von Marketstudios macht sich Gedanken, wie Design (in der Küche) noch mehr nachhaltige Resonanz erzeugt. WWW.MARKETSTUDIOS.DE
Neele Grünberg: Neele hat mit zwei Partnern ein spannendes ganzheitliches Konzept entwickelt, eine Markthalle für regionalen und saisonalen Genuss. WWW.HOBENKOEOEK.DE
Jost Becken: Einer von zwei Austernfischern, die nachhaltig gesammelte, frische Austern aus dem Wattenmeer auf Wochenmärkten anbieten. WWW.AUSTERREGION.DE
Giuseppe Messina: Der Deutsch-Italiener hat sich der bewussten Küche verschrieben und will mit seinem Essen Geschichten erzählen und Menschen berühren. WWW.GIUSEPPEMESSINA.DE
WAS VERBINDEN WIR HEUTE MIT KÜCHE UND KOCHEN?
HOLGER SCHARDT Der ganzheitliche Anspruch steht für viele Menschen heute klar im Vordergrund. Insbesondere für Menschen, die generell einen hohen Anspruch an sich selbst, an ihren Job und ihre Familie haben. Sie suchen nach ganzheitlichen Lösungen, nach anderen Lebensformen. Im Einklang mit der Natur zu leben ist ein zentrales Thema, das sich in der Küche widerspiegelt. Alle anderen Räume haben ihre Funktionen und sind mehr oder weniger personalisiert, aber an der Küche kann man die jeweilige Haltung ablesen. Wie möchte ich mich ernähren? Wo kaufe ich ein? Wie nachhaltig möchte ich leben? Die Küche ist traditionell ein hoch technisierter Raum und meistens mit hohem Invest verbunden. Wir haben die Erfahrung gemacht, wie wichtig es für Menschen ist, hier einen perfekten Ort zu schaffen, die perfekte Werkstatt, zentraler Treffpunkt der Familie, aber auch Ausdruck der persönlichen Haltung ist. Die Küche soll das nicht nur technisch leisten können, sie soll auch so aussehen. Und sie soll sich auch so anfühlen.
IST BEZÜGLICH NACHHALTIGKEIT EIN PARADIGMENWECHSEL ZU SPÜREN?
NEELE GRÜNBERG Auf jeden Fall! Das spiegelt sich auch in unserem Foodkonzept wider. Wir wissen, wo unsere Ware herkommt. Da ist manch alter Familienbetrieb dabei, der aus Tradition biologisch produziert, für den es aber zu teuer wäre, sich auf „Bio“ zertifizieren zu lassen. Für mehr Nachhaltigkeit braucht es nicht unbedingt ein Siegel. Wir zeigen mit unseren Produkten, dass wir Regionalität leben können. Dass es alte Kartoffel- und Gemüsesorten und tolle alte Obstsorten gibt. So etwas findest du sonst nicht. Das sind besondere Produkte, und sie verbinden uns mit besonderen Menschen, zu denen wir persönlich hinfahren und mit denen wir eine intensive Kommunikation pflegen.
GIUSEPPE MESSINA Da stimme ich zu. Wir erleben heute den Trend der Regionalität, als wäre es etwas bahnbrechend Neues. Ich habe mit einer älteren Kollegin gesprochen, die Köchin in einem kleinen Restaurant in den Abruzzen war. Sie hat selber Linsen angebaut, die es sogar ins Präsidium für Hülsenfrüchte der Slow-Food-Bewegung von Carlo Petrini geschafft haben. Für sie war Bio keine neue Bewegung. Sie hat ihr ganzes Leben diese Linsen ohne chemische Zusatzstoffe gezüchtet. Wir hatten das alles schon einmal und haben es über Bord geworfen, weil wir andere Ziele hatten. Aus Mangel an Zeit ist die Kochkunst verfallen und der Convenience-Trend hat sich durchgesetzt. Die Food-Industrie hat uns geprägt mit Botschaften wie „Mach es dir leichter, dann hast du mehr Zeit für dich selbst“.
GIBT ES JETZT EINE UMKEHR VOM REINEN ZEITGEWINN HIN ZU ANDEREN WERTEN?
JOOST BECKEN Auf jeden Fall ein steigendes Interesse daran. Mein Geschäftspartner Marco und ich haben seit Langem einen klaren Fokus auf nachhaltiges Anbauen und Handeln. Schon während des Studiums, übrigens mit Schwerpunkt Sustainability, haben wir uns im Foodsharing engagiert. Es ist nachhaltig, aber mit Aufwand verbunden, also garantiert kein Zeitgewinn. Du musst die Lebensmittel zum fest verabredeten Zeitpunkt abholen. Wir haben damit unsere WGs versorgt. Manchmal hatten wir 10 Stangen Lauch in der Küche. Wir haben Teile davon lieber an die Nachbarn verschenkt, statt sie in den Müll zu werfen. Das ist tief in uns drin. Dieses Verwerten.
WAS HEUTE AUCH BASIS EURES GESCHÄFTSMODELLS IST?
JOOST Genau. Wir sind beide vom Fischhandel geprägt und waren auf der Fischmesse in Bremen. Da stand zwischen allen großen Playern aus der Fischwirtschaft ein holländisches Paar inmitten von Säcken voller Austern. Sein Stand sah nach gar nichts aus, seine Philosophie aber hat uns total überzeugt. Die beiden sammeln die pazifische Auster an der holländischen Nordseeküste. Die Auster hat ideale Wachstumsbedingungen, denn sie ernährt sich von Plankton und davon gibt es im Wattenmeer mehr als genug. Wir holen die Ware mehrmals pro Woche ab und verkaufen sie direkt auf regionalen Wochenmärkten und an Restaurants, die vorbestellt haben. Nachhaltiger geht’s nicht.“
HAT ES IN DER CORONA-ZEIT NOCH EINMAL EINEN SHIFT GEGEBEN ZU MEHR ACHTSAMKEIT?
NEELE Ja, mehr Achtsamkeit und mehr Miteinander. Als der Lockdown kam, haben wir kurzentschlossen die Markthalle weiterhin geöffnet. Hinter uns stehen viele Produzenten, die glücklich und erleichtert waren, dass wir ihnen ihre Ware abgenommen haben, denn an Restaurants konnten sie diese nicht mehr abgeben. Viele Kunden haben unsere Anstrengungen wertschätzend begleitet. Und es sind neue kreative Ideen durch die noch intensivere Kommunikation mit unseren Händlern entstanden: Wir haben mit Produzenten aus den Vierlanden Tomatensoße hergestellt und eigene Bolognese mit einem Produzenten an der Grenze zu Mecklenburg-Vorpommern. Und wir haben viel eingeweckt: Rote Beete, Rotkohl, Grünkohl, Kohlrabi sind nur einige der Produkte.
GIUSEPPE Was gerade wiederentdeckt worden ist, sind tatsächlich alte Methoden wie Fermentieren, Räuchern, Einlegen. Vielleicht besinnst du dich in solchen Zeiten wieder auf das, was mal deine Wurzeln waren. Das ruft Glückgefühle hervor, die man damals hatte, als man bei der Oma zu Besuch war und sie hat dein Leibgericht gekocht. Wer hat heute noch ein Leibgericht? Das hat mit der heilen Welt zu tun, die mal als Kind wahrgenommen hat und in solchen Zeiten besonders vermisst. Essen ist ein ganz großer Indikator für Liebe, Zuneigung und Wertschätzung.
HOLGER Das macht sich auch in der Küche bemerkbar. Es war zwar schon immer so, dass die Küche der Ort ist, wo das Leben pulsiert. Neu ist allerdings, dass es nicht mehr die Domäne der Hausfrau und Mutter ist. Er wird immer mehr ein Ort der gemeinsamen Gestaltung. Und inzwischen hat auch die digitale Welt längst Einzug gehalten. Auch wenn die Küche insgesamt mehr Möbel geworden ist: Die Technik ist sichtbar und will es auch bleiben. Sie wird aber zunehmend menschlicher, besser und einfacher zu bedienen und somit zum perfekten Partner. Sie ist der Helfer, der vieles einfacher macht und noch mehr Menschen erauthentisch sein. Man muss sich wiederfinden können.
GIUSEPPE Ich möchte für meine Gäste das beste Produkt in der schönsten und kreativsten Zubereitungsart. Es treibt mich als Koch an, mit Aromen, mit Texturen zu spielen. Mit neuen Zubereitungsformen und Konsistenzen. Aber ich liebe auch Klassik, etwa klassische Rezepte von meiner Großmutter wie ihre Nocchi. Das nährt die Seele. Ich würde es niemals verändern. Emotionen haben mich geprägt. Es gibt kein schöneres Kompliment, als wenn jemand zu mir sagt: „Das Gericht hat mich an meine Kindheit erinnert.“ Was ich gut fände, wäre mehr Streetfood. Ich wünsche mir, dass man mehr Qualität für weniger Geld findet. Es muss ehrlich sein, einfach gutes, ehrliches und bezahlbares Essen, wie man es in meiner Heimat Sizilien findet.
NEELE Es ist toll, etwas zu bewegen, sich weiterzuentwickeln. Da passiert ganz viel. Wir planen gerade eigene Gewächshäuser, die wir selbst bewirtschaften. Bei uns im Oberhafen gibt es viele kreative Menschen, die alle Bereiche der Kreativwirtschaft abdecken. Wir leben das pure Leben. Unser Oberhafen Urban Gardening-Project wird offen sein für jedermann. Es ist ein tolles Revier, ein ehemaliges Bahngleis mit der größten überdachten Halle Hamburgs. Da wird in den nächsten Jahren noch sehr viel passieren.
JOOST Bis wir Geld verdient haben, hat es echt lange gedauert. Wir hatte so einen Bock darauf, dass wir das alles hingenommen haben. Jetzt bekommen wir langsam mehr Sicherheit und einen stabileren Umsatz. Wir würden das Konzept gern deutschlandweit ausbauen. Aufgrund der Ware und Verfügbarkeit könnten wir ganz Deutschland beliefern. Aber wie regional ist das noch, wenn die Leute in München unsere Austern essen? möglicht, richtig gut zu kochen.
GIUSEPPE Unsere ganze Entwicklung hat in der Küche stattgefunden, am Feuer. Daraus hat sich Kulinarik entwickelt. Köche haben dabei unser heutiges Sein entscheidend geprägt. Daraus ist die Zivilisation entstanden, dass nicht mehr jeder jagen oder sammeln gehen muss.
JOOST Wir machen das immer noch: sammeln. Die regionale Beschaffung ist allerdings sehr anstrengend. Alles, was wir haben, versuchen wir am Wochenende zu verkaufen. Es gibt kein eigenes Lager, in dem wir unsere Ware zwischenlagern. Vielleicht haben wir deshalb keine Konkurrenz.
WAS TREIBT EUCH ANDEREN AN? WOHIN GEHT DIE REISE?
HOLGER Ein Umdenken hat stattgefunden, die Konzentration auf das Wesentliche. Was kann ich selbst schaffen? Was könnte ich mit meinen Fähigkeiten selbst tun? Aus welchen drei Sachen kann ich mir Dinge zubereiten, wovon ich leben könnte? Diese innere Haltung bildet sich auch im Design der Küche ab. Bin ich vegan, dann kann das ruhig in der Küche abzulesen sein. Wenn ich Fleischliebhaber bin, kann gern die Grillplatte das zentrale Thema sein. Die Identifikation hat eine tiefere Bedeutung als früher. Nicht mehr der Schein nach außen – also das „gute Geschirr“ für besondere Anlässe – steht im Vordergrund, sondern die Achtsamkeit im Alltag. Man trifft bewusste Entscheidungen und es muss authentisch sein. Man muss sich wiederfinden können.
GIUSEPPE Ich möchte für meine Gäste das beste Produkt in der schönsten und kreativsten Zubereitungsart. Es treibt mich als Koch an, mit Aromen, mit Texturen zu spielen. Mit neuen Zubereitungsformen und Konsistenzen. Aber ich liebe auch Klassik, etwa klassische Rezepte von meiner Großmutter wie ihre Nocchi. Das nährt die Seele. Ich würde es niemals verändern. Emotionen haben mich geprägt.
Es gibt kein schöneres Kompliment, als wenn jemand zu mir sagt: „Das Gericht hat mich an meine Kindheit erinnert.“ Was ich gut fände, wäre mehr Streetfood. Ich wünsche mir, dass man mehr Qualität für weniger Geld findet. Es muss ehrlich sein, einfach gutes, ehrliches und bezahlbares Essen, wie man es in meiner Heimat Sizilien findet.
NEELE Es ist toll, etwas zu bewegen, sich weiterzuentwickeln. Da passiert ganz viel. Wir planen gerade eigene Gewächshäuser, die wir selbst bewirtschaften. Bei uns im Oberhafen gibt es viele kreative Menschen, die alle Bereiche der Kreativwirtschaft abdecken. Wir leben das pure Leben. Unser Oberhafen Urban Gardening-Project wird offen sein für jedermann. Es ist ein tolles Revier, ein ehemaliges Bahngleis mit der größten überdachten Halle Hamburgs. Da wird in den nächsten Jahren noch sehr viel passieren.
JOOST Bis wir Geld verdient haben, hat es echt lange gedauert. Wir hatte so einen Bock darauf, dass wir das alles hingenommen haben. Jetzt bekommen wir langsam mehr Sicherheit und einen stabileren Umsatz. Wir würden das Konzept gern deutschlandweit ausbauen. Aufgrund der Ware und Verfügbarkeit könnten wir ganz Deutschlan beliefern. Aber wie regional ist das noch, wenn die Leute in München unsere Austern essen?
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